Dienstag, 11. Januar 2011

Achte Folge: Backfischliteratur

Man nehme eine Titelfigur – am besten ein junges Mädchen, würze sie mit einer gutbürgerlichen Herkunft und veredle ihre Vorfahren am besten mit Adligen. Der Aufwand für das Hauptfiguren-Gericht ist gering und reicht nur von 14 Jahren bis zur Verlobung. Fertig ist eine Mischung, die perfekt in das Schema der Backfischliteratur passt. Den Namen prägte die Autorin Clementine Helm in ihrem Roman »Backfischchens Leiden und Freuden« (1863). Danach folgten schnell weitere Backfischromane mit dem gleichen Muster, die alle zu Bestsellern wurden: »Heidi« (1882) von Johanna Spyri, »Der Trotzkopf« (1885) von Emmy von Rhoden und »Nesthäkchen« (1913) von Else Ury.

Viele der Romane waren eigentlich als Einzelband konzipiert worden, doch nach dem Erfolg drängten die Verleger zu Fortsetzungen. So entwickelten sich die bekannten Serien, die bis heute noch lieferbar sind und verkauft werden. Der Trotzkopf ist noch in mindestens vier Verlagen lieferbar und die Auflagenzahl geht in die Millionen.

»Heidi« kenne ich vor allem durch die japanische Zeichentrickserie, die den Urtext und die eigentlich Intention stark verfremdet. Spyri hat eigentlich einen ernsthaften Heimatroman geplant, eben diese Literatur, zu der auch der Berg-, Zugspitze- oder Rosengarten-Roman gehören. Wie kommt dieser Kontext zustande? Johanna Spyri hieß im richtigen Leben Johanna Luise Heusser und wurde 1827 in Zürich geboren. Nach einer Fremdsprachenausbildung war sie als Erzieherin tätig und heiratete 1852. 1871 schrieb sie ihre ersten Erzählungen, 1878 »Heimatlos«. 1880 schrieb sie »Heidis Lehr- und Wanderjahre« und 1901 starb sie. Dieser Roman der Kaiserzeit zeigte, wie eine kindliche Entwicklung unter problematischen Bedingungen verlief. Heidi, die bei ihrem Großvater auf dem Land lebt, übernimmt in der fremden Großstadt Frankfurt die Verantwortung für ein behindertes, gleichaltriges Mädchen, fängt an zu Schlafwandeln und sehnt sich nach ihrer Heimat auf der Alm. Spyri zeigt die kindlichen Urängste auf: Der Zerfall und der Verlust von Familie und dem vertrauten Umfeld. Dieser Heimatmythos wird in der NS-Zeit unendlich verkitscht und verklärt. »Heidi« ist in 134 Sprachen übersetzt worden und gehört nach dem Struwwelpeter zum meist übersetzten, deutschsprachigen Kinderbuch aller Zeiten.

Die Geschichte von Else Ury und ihren Romanen ist anders. Sie hat »Nesthäkchen« gleich von Anfang an als Serie geplant und spiegelte ihre eigene Situation wider. Else Ury wurde 1877 geboren, ist in Berlin aufgewachsen und war sehr gebildet. »Studierte Mädel« (1919) zeigte emanzipatorisch die Möglichkeiten auf, die Frauen in der Zeit hatten. Klingt schön, wenn da nicht ein kleiner Vorwurf wäre, der bei Ury immer mitschwingt. Als Jüdin wuchs sie zwar in einem liberalen Berlin auf, erlebte allerdings auch neue, antisemitische Strömungen mit und wurde in der Schule ausgegrenzt. Als Reaktion versuchte sie, sich möglichst stark an die deutsche Gesellschaft anzupassen. Diese Assimilation einer gutbürgerlichen, urdeutschen Welt wird ihr immer vorgeworfen, grenzen sie doch fast schon an Verklärung.

Ihr größter Erfolg war die »Nesthäkchen«-Serie, die sieben Jahrzehnte der Hauptfigur beschreiben – von der Puppenmutter bis zur Großmutter. Die Leser erlebten das Nesthäkchen als Schülerin, Abiturientin, Studentin, Mutter, Großmutter. Für alle Probleme, mit denen sie konfrontiert ist, fand Ury eine positive Wendung. Trotz ihrer starken Assimilation kam Ury während des Zweiten Weltkriegs in das Konzentrationslager nach Ausschwitz, wo sie 1943 starb.

Die Autorin hat eine erfolgreiche Serie geschaffen, die alle Merkmale eines damaligen Bestsellers aufwies: ein positiver Zeitbezug mit einem aktuellen Thema, eine gute Handlung und eine erfolgreiche Vermarktung. Letzteres ist vielleicht heute ein Problem: Nachdem die Rechte an dem Werk frei wurden, begann eine erneute Vermarktung und vor allem Umdeutung des ursprünglichen Konzepts. Ob Ury das heutige Nesthäkchen wohl gefallen würde?

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